4.3. Künstliche Intelligenz im Corporate Learning
Der Veränderungsdruck auf das Corporate Learning verstärkt sich mit der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz dynamisch weiter. Ob wir wollen oder nicht, wird KI in der Arbeitswelt breit genutzt werden. Studien zeigen, dass die Produktivität von Wissensarbeitern bis zu 35 % gesteigert werden kann bei gleichzeitiger Verbesserung der Qualität um bis zu 20 % (vgl. Foelsing 2023). Folglich müssen diese Systeme auch in unsere Lernarrangements integriert werden, da Corporate Learning in erster Linie die Aufgabe hat, die Mitarbeiter auf die heutige und zukünftige Arbeitswelt vorzubereiten. Dabei dürfen wir jedoch nicht von den bisherigen Lernsystemen ausgehen, sondern müssen den Blick in die Zukunft richten.
Mit Künstlicher Intelligenz, Datenanalyse und dem automatischen Auswählen (Kuratieren) von Inhalten wird es über LXP möglich, personalisierte Lernangebote zusammenzustellen und die Lernprozesse individuell zu ermöglichen. Auf diese Weise ist es möglich, Lernangebote bedarfsgerecht („Learning in the Moment of Need“) und personalisiert („Learning just for me“) anzubieten (vgl. Stoller-Schai 2021).
Der Begriff künstliche Intelligenz wurde bereits 1955 von John McCarthy kreiert. Danach sollen sich Maschinen so verhalten als verfügten sie über menschliche Intelligenz. (vgl. Scheer 3. Aufl. 2018).
KI-Verfahren werden zunehmend in digitalen Geschäftsprozessen eingesetzt. Die Massendaten aus Kundenkontakten oder Social Media sowie die Sensordaten aus dem Internet of Things können nicht mehr von Menschen bewältigt und analysiert werden, so dass automatische Verfahren eingesetzt werden müssen, um Daten in Wissen zu überführen (vgl. ebenda , S. 17 f.). Auch im Lernbereich kann die Künstliche Intelligenz dazu beitragen, Lernprozesse zu optimieren.
Künstliche Intelligenz (KI) entsteht durch algorithmische Verfahren, die menschliche kognitive Fähigkeiten imitieren und Handlungsweisen nachbilden, um eigenständig Probleme bearbeiten zu können. (nach Fraunhofer IKS 2022; Petry, Jäger 2018, S. 46).
Mit künstlichen neuronalen Netzen (KNN) wird z. B. versucht, Eigenschaften des menschlichen Gehirns nachzubilden. Diese Systeme ergänzen und stärken menschliche Fähigkeiten im Sehen, Hören, Analysieren, und Entscheiden. Beispiele hierfür sind u.a. Dienste zur Bild-, Audio-, Text-, Sprach- und Emotionserkennung.
Anwendungen der KI im CorporateLearning (vgl. Foelsing 2023; Eggmann 2023, S. 203ff., Bersin 2023a, 2024):
- Bedarfsklärung:- Definition von zielgruppengerechten Werte-und Kompetenzmodellen
 - Ableitung von Sollprofilen für Hard-und Softskills bzw. Erfahrungen.
 - Erfassung und Analyse der Hard-und Softskills sowie Erfahrungen.
 - Analyse der Erfassungsergebnisse, insbesondere der besonders stark oder schwach ausgeprägten Ergebnisse sowie der größten Abweichungen zwischen Ist und Soll sowie zu Vergleichsgrößen, z.B. im Team.
 - Bewertung der Ergebnisse in Hinblick auf die beruflichen Anforderungen bzw. Sollprofile.
 - Persönlichkeitsdiagnostik: Persönlichkeitsmerkmale, z.B. die Big Five.
 - Lerndiagnostik: Lernvorlieben, Lernstil
 - Laufbahnberatung etc.
 
- Reporting im Rahmen der Skills-DiagnostikDie Mitarbeitenden werden auf Basis der Vorschläge der KI befähigt, folgende Schritte zu durchlaufen: - Ableitung von jeweils 2 -3 Werte- und Kompetenzzielen sowie des Qualifizierungsbedarfs, die als Leitlinie für die personalisierten Lernprozesse dienen.
 - Entwicklung von Vorschlägen für adaptive und personalisierte Lernpfade.
 Damit ist es möglich, das Konzept der gezielten Werte- und Kompetenzentwicklung zu wirtschaftlichen Bedingungen auf die gesamte Organisation auszudehnen, da diese Lösung skalierbar ist und der persönliche Beratungsaufwand minimiert wird. Die ermittelten Daten können für das Skills-Mapping genutzt werden. 
- Rapid Content Developmentz.B. E-Books, Videos und Podcasts in verschiedenen Sprachen. Generative AI-Tools wie Runway ml, Synthesia, Pictory AI, Midjourney, Leonardo AI usw. helfen als Assistenten dabei, diese Kursinhalte, z.B. basierend auf bereits vorhandenen Unterlagen oder externen Artikel, zu generieren. Sie erstellen Quizfragen, Fallstudien und interaktive Übungen und aktualisieren vorhandene Kurse. 
- Konzeption und Erstellung von LernangebotenGenerative AI-Tools können individuelle Lernpläne erstellen, die auf den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Mitarbeitenden basieren. Voraussetzung dafür sind sogenannte Prompts, beispielsweise (ebenda): „Erstelle mir einen Lernplan zum Thema Kundenorientierung. Ich habe bis jetzt kaum Erfahrungen in dem Bereich, werde aber in 100 Tagen eine Stelle im Bereich Customer Service übernehmen. Was muss ich tun, um die notwendigen Werte und Kompetenzen bis dahin aufzubauen? Nutze dabei das Pareto-Prinzip und fokussiere dich bei dem Lernplan auf die 20% die ich brauche, um 80% der Herausforderungen zu bewältigen. Nenne mir auch Quellen zu den einzelnen Lernbereichen, wo ich mich initial informieren kann.“ Die Möglichkeiten der Lösungen sind breit: - Automatisiertes Erstellen von Lerninhalten und ganzen Kursen mit Sprach-, Bild-, Video- und Textgenerierung
 - Empfehlungen für die Anpassung von Lernmaßnahmen
 - Individuelle Anpassung von Lerninhalten an die Lernenden
 - Aktualisierungen
 - Übersetzungen, auch in Echtzeit etc.
 
- Digitale Kuratierungslösungen (Content Curation)Diese Systeme wählen Inhalte bedarfsgerecht für einzelne Mitarbeitende aus, kombinieren, kommentieren und kommunizieren sie. KI-basierte Kuratierungslösungen sind in der Lage, aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem einzelnen Mitarbeiter, ihm regelmäßig Inhalte auszuwählen und aufzubereiten, die für seine Aufgaben und seine Interessen relevant sind. Das Entscheidende bei der Content Curation ist, dass der Content nicht einfach nur kopiert wird, sondern auf seine thematische Relevanz für den einzelnen Mitarbeiter geprüft und bedarfsgerecht aufbereitet wird. Dadurch können fachlich fundierte Inhalte zusammengestellt werden, die dem Mitarbeiter helfen, gezielt zu lernen und seine Performance zu verbessern. 
- Virtuelle AssistentenHumanoide Computer übernehmen die Rolle eines persönlichen Lernbegleiters, der Reaktionen der Lerner erkennt und darauf reagieren kann. (vgl. Erpenbeck, Sauter 2013). Virtuelle Assistenten erfassen, analysieren und bewerten, ähnlich wie Menschen, Problemstellungen, geben Rückmeldungen und entwickeln Lösungsvorschläge . Sie haben eigene Meinungen, die sie auch kritisch äußern, und entwickeln von sich aus Lösungsvorschläge. Dabei nutzen sie ihr Erfahrungswissen aus früheren Entscheidungen des Lerners, sodass sie im Laufe der Zeit auch dessen emotionale und motivationale Wertungen und dessen Wertesystem verinnerlichen und in ihre Vorschläge miteinbeziehen. Es wird dadurch möglich sein, Werte- und Kompetenzentwicklung mithilfe des Lernpartners Computer auf einem bisher nicht möglichen Niveau zu optimieren. Die KI kann das erforderliche Wissen „on-demand“ zur Verfügung stellen sowie beispielsweise Lösungskonzepte der Lerner bewerten und Optimierungshinweise geben. Bei diesem Computer-Co-Coaching stehen den einzelnen Mitarbeitenden zwei Arten von Lernbegleitern zur Verfügung: Mensch und Human Computer. Eine neue Art von Lernhandeln etabliert sich. Deshalb liegt die nahe Zukunft des Lernens in einer sinnvollen Kombination der menschlichen Lernbegleitung und des Computer Co-Coachings. 
- ChatbotsDiese Softwareprogramm können über Texteingaben oder Sprachbefehle Konversationen mit menschlichen Nutzern führen. Moderne Chatbots sind oft mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattet, so dass sie aus Interaktionen lernen und ihre Antworten im Laufe der Zeit zu verbessern. Am häufigsten setzen Unternehmen KI-Technologien zur Spracherkennung ein (43 Prozent), zur Automatisierung von Arbeitsabläufen oder zur Hilfe bei der Entscheidungsfindung (32 Prozent). Darüber hinaus haben sie Technologien zur Analyse von Schriftsprache beziehungsweise Text Mining im Einsatz (30 Prozent). Im Personalbereich werden Chatbots vor allem für folgende Anwendungen genutzt: - Recruiting: Beantwortung von Bewerberfragen, Terminvergaben, Führung durch den Bewerbungsprozess
 - Onboarding: Finden von Ansprechpartnern, Erklärung von Abläufen bis zum compliance-gerechten Handeln
 - HR Services: Vom Urlaubsantrag bis zur Reisekostenabrechnung
 - Personalentwicklung: Von der anmeldung bis zum Lernpartner
 - Simulationen und Serious Games
 Mit Hilfe der KI ist es möglich, die Herausforderungen in Simulationen und Serious Games immer realitätsähnlicher zu gestalten, so dass Emotionen entstehen, die zu einer Werte- und Kompetenzentwicklung beitragen können. 
- Summarize BotsBündeln mithilfe von künstlicher Intelligenz die wichtigsten Informationen eines Dokuments. Sie scannen unzählige Seiten und identifizieren die Inhalte, die für eine bestimmte Anwendung relevant sind. Damit sind diese Tools vor allem für das Wissensmanagement, aber auch für die Identifizierung formeller Inhalte sinnvoll. 
- Skills-MappingGrafische und verbale Darstellung der vorhandenen und benötigten Hard und Soft Skills der Organisation, der Teams und der einzelnen Mitarbeiter. Skill-Mapping beantwortet zentrale Fragen, die für die Organisation bzw. die Organisationsentwicklung von strategischer Bedeutung sind - Ist: Wie stark sind die einzelnen Werte und Kompetenzen auf den verschiedenen Ebenen, Organisation, Teams und Mitarbeitende ausgeprägt?
 - Soll: Wie stark sollten die einzelnen Werte und Kompetenzen auf den verschiedenen Ebenen der Organisation ausgeprägt sein?
 - Gaps: Wie stark weichen Ist und Soll der Werte und Kompetenzen in den einzelnen Bereichen der Organisation voneinander ab?
 - Entwicklungsbedarf: Welche Werte und Kompetenzen der Organisation, der Teams und der einzelnen Mitarbeitenden sollten gezielt entwickelt werden?
 - Besetzung von Funktionen: Wie können Mitarbeitende mit der passenden Haltung und den erforderlichen Handlungsfähigkeiten in der Organisation gefunden werden? Wie können Bewerbende in Hinblick auf die Anforderungen eingeschätzt werden?
 - Matching von Lernpartner*innen oder mit Expert*innen: Wie finden die Mitarbeitenden geeignete Lernpartner*innen und Expert*innen?
 - Zusammenstellung von Teams: Wie findet man die Mitarbeitenen mit der passenden Haltung und den erforderlichen Handlungsfähigkeiten?
 
- AdministrationAnalysen und Evaluationen, Qualitätsentwicklung, Beantwortung von Standardfragen, Bewertungen von Lernleistungen, Lernplanung etc. 
Es ist somit davon auszugehen, dass die KI in der Personalentwicklung weniger Tätigkeiten vollständig übernimmt – Substitution - , sondern komplementär mit den Lernern, den Lernplanern und Lernbegleitern zusammenspielt – Augmentation.
Das Nutzenpotenzial der KI im Corporate Learning ist groß:
- Lernorientierung: Die Mitarbeitenden entwickeln gezielt die erforderlichen Werte und Kompetenzen sowie das notwendige Wissen und evtl. Qualifikationen für ihren Bedarf im Arbeitsprozess und bereiten sich auf ihre strategischen Herausforderungen vor.
- Lerneffekivität: Lernen setzt direkt an den Herausforderungen im Arbeitsprozess an und wird dadurch motivierender, individueller, personalisiert und adaptiv. Die Lernenden bringen sich aktiv in die Lernprozesse ein und erhalten zeitnahe Rückmeldungen und Impulse. Lernen wird abwechsungsreicher und erfolgt gemeinsam mit Lernpartner*innen, Führungskräften und mit persönlicher sowie virtueller Lernbegleitung. Immersive Lernerlebnisse schaffen sichere Orte zum Üben
- Lerneffizienz: Lernen erfordert weniger Zeit und wird nahtlos in die Arbeitsprozesse integriert. Die Kuratierung von Wissen und Lernmaßnahmen beschleunigt die Lernprozesse. Die Entwicklung von Lernarrangements erfolgt schneller und kostengünstiger. Die Lernenden können die Lernsysteme jeweils in ihrer Sprache nutzen.
- Skalierung: Die Skalierung der Systeme ermöglicht eine breite Nutzung in der Organisation duch enorme Kostenvorteile.
Insgesamt ermöglicht der Einsatz der KI im Corporate Learning mehr Transparenz über die Lernbedarfe und die -möglichkeiten. Hinzu kommt, dass die Einführungsprozesse erfahrungsgmäß dazu führen, die aktuelle Lernkonzeption zu hinterfragen und einen Veränderungsprozess zu initiieren.
Damit wird die KI zu einer Beschleunigung folgender Trends im Corporate Learning beitragen:
- Lernverantwortung: Die Mitarbeitenden gestalten mit Hilfe der KI ihre Lernprozesse eigenverantwortlich und selbstorganisiert.
- Lernziele: Persönliche Werte und Kompetenzen bilden die Lernziele, Wissen und Qualifikation bilden die notwendige Voraussetzung,
- Lernort und Lernpfade: Die gezielte Entwicklung der Werte und Kompetenzen der Mitarbeitenden erfolgt vor allem beim Bewältigen von Herausforderungen in der Praxis und in Projekten,
- Lernbegleitung: Menschliche Lernpartner*innen und Virtuelle Assistenten ermöglichen selbstorganisierte, personalisierte Lernprozesse,
- Lernräume: An die Stelle traditioneller Lernräume und Lernumgebungen treten Entwicklungs- und Coaching-Umgebungen in Learning Experience Plattformen,
- Kuratierung: Wissen und Qualifikation wird - auf Grundlage einer Basisqualifikation – mit Hilfe von Kuratierungssystemen on demand selbstorganisiert über die LXP aufgebaut,
- Personalisierung: Die Lernprozesse werden immer stärker auf die individuellen Bedarfe der Lernenden zugeschnitten. Konzepte nach dem „Giesskannenprinzip“ gehören damit der Vergangenheit an.
- Adaptivität: Innerhalb der Lernprozesse erfolgt eine dynamische Interaktion in Echtzeit.
- Kollaboration: Mit Hilfe digitaler Systeme und des Skill-Mappings wird soziales Lernen unabhängig von Ort und Zeit gefördert.
- Lernerlebnis: KI-basierte Lernerlebnisse, z. B. in Simulationen oder durch immersive Angebote, fördern die Motivation der Lerner.
- Lerneffektivität und -effizienz: Die Personalisierung der Lernprozesse führt zu personalisierten Lernzielen und -prozessen und damit zu deutlich kürzeren Lernzeiten.
Mit diesen Entwicklungen sind auch spezifische Befürchtungen und Risiken verbunden (vgl. Eggmann 2023, S. 254 ff.):
- Mangelnde Akzeptanz: Wurde bei den Mitarbeitenden kein Verständnis und Vertrauen für die neuen Lernlösungen aufgebaut, besteht die Gefahr einer Abwehrhaltung. Dies kann auch geschehen, wenn Lösungen eingesetzt werden, die einem anderen Kulturkreis, z. B. China oder USA, entwickelt wurden. Deshalb ist der Anpasssungs- und Implementierungsprozesse von zentraler Bedeutung.
- Demotivation und Enttäuschungen: Wurden zu hohe Erwartungen geweckt, die in der Praxis nicht eingelöst werden, kann sich rasch eine ablehnende Haltung entwickeln. Dies kann insbesondere dann passieren, wenn KI-basierte Lösungen bereitgestellt werden, die bisherige Lernkonzeption aber unverändert bleibt.
- Fehlende Veränderung der Personalentwicklung: KI-basierte Lernysysteme erfordern ein grundlegend verändertes Rollenbild und damit angepasste Werte und Kompetenzen der Learning Professionals. Deshalb ist deren gezielte Entwicklung vor Beginn der Neuorientierung die notwendige Voraussetzung.
- Mangelnde Anpassungsbereitschaft der Führungskräfte: In KI-basierten Lernsystemen übernehmen die Führungskräfte die Rolle eines Entwicklungspartners ihrer Mitarbeitenden. Deshalb müssen diese darauf vorbereitet werden.
- Widerstand bei Entscheidern im im Betriebs- oder Personalrat: Teilweise besteht die Sorge, dass durch KI-basierte Lernsysteme „Gläserne Mitarbeitende“ oder Möglichkeiten zur Manipulation bis hin zur Kontrolle der Menschen geschaffen werden. Hinzu kommen manchmal auch ethische Bedenken, insbesondere in Hinblick auf die Fairness der Systeme, mögliche Diskriminierungen, die Zuverlässigkeit oder den Schutz der Privatsphäre. Häufig besteht auch eine hohe Unsicherheit in Hinblick auf die Kosten und den ROI. Deshalb ist es notwendig, vorab transparent zu informieren und gemeinsam Lösungen zu entwickeln, die diese Fragen klären und Gefahren so weit wie möglich ausschließen.