4.1.2. Ermöglichungsdidaktik – die konzeptionelle Basis
„Der Mensch ist unbelehrbar, aber lernfähig.“
Horst Siebert (2011)
Zukünftiges Lernen in Organisationen erhebt nicht mehr der Anspruch, man könne Lernprozesse direkt beeinflussen (Wahl 2006, S. 206). Auch widerspricht diese „Erzeugungsdidaktik“ dem Menschenbild, das im Kontext agiler Unternehmen zunehmend gefordert wird.
Es ist absurd zu glauben, man könne die individuellen Lernprozesse der Mitarbeitenden einer Organisation zentral steuern und damit auf die strategischen Ziele hin fokussieren. Die Lernprozesse im Unternehmen werden vielmehr durch Regeln, Normen und Werte, die von den Mitarbeitenden verinnerlicht sind, koordiniert und synchronisiert. Deshalb ist Lernen kein linearer Prozess, wie es sich viel traditionelle Bildungsverantwortliche wünschen. Aus diesen Erkenntnissen heraus hat sich die Ermöglichungsdidaktik entwickelt (vgl. Arnold/Gomez Tutor 2007).
Die didaktische Analyse der Bildungswirkung des Lehr- und Fachinhalts muss deshalb perspektivisch ersetzt oder gar abgelöst werden durch eine „didaktische Analyse des Lernsubjektes“ (Arnold 2017, S. 18).
Ermöglichungsdidaktik hat zum Ziel, den Mitarbeitenden alles an die Hand zu geben, damit sie ihre personalisierten Entwicklungsprozesse problemorientiert und selbstorganisiert gestalten können (ebenda).
Es geht also nicht mehr darum, den Mitarbeitenden einen vorgegebenen Stoff/Inhalt zu vermitteln, vielmehr sollen sie in ausgewählten, repräsentativen Praxisaufgaben eigene Erfahrungen sammeln und Autonomie erleben. Die Lernautonomie liegt dabei grundsätzlich beim Mitarbeitenden, dem zugetraut wird, Zugänge zu den notwendigen Themen zu erarbeiten, diese im Dialog zu vertiefen und mögliche Anwendungen zu üben (ebenda S. 22).
Die Ermöglichungsdidaktik ist die pragmatische Antwort auf die wirtschafts- und bildungspolitisch propagierte Forderung nach „Lebenslangem Lernen“ und damit auch für agile Entwicklungskonzeptionen. Die vielbeschworene Vision des Lebenslangen Lernens baut darauf auf, dass die Menschen die Motivation und die Kompetenz erwerben, eigenständig über ihre gesamte Lebensspanne hinweg zu lernen. Sie umfasst damit alle Gelegenheiten zum Lernen, in Seminaren, mit E-Learning, in Blended-Learning-Arrangements oder in sozialen Netzwerken, am Arbeitsplatz, in Projekten oder in Communities of Practice – und all dies: ein Leben lang (vgl. Schäfer 2017).
Dies bedeutet die Aufgabe von Mythen über das Lernen, liebgewonnener und vordergründig erfolgreicher Lehrkonzepte und jahrzehntelang entwickelter Lernmaterialien, einen grundlegenden Kulturwandel im betrieblichen Lernbereich und eine fundamental veränderte Rolle der Personalentwicklung, der Führungskräfte und der Mitarbeitenden.
Die Entwicklungssituation sollte deshalb nicht vom Inhalt, sondern aus dem Fokus des Lernenden als Lernraum gestaltet werden (vgl. Wahl 2006). Die Ermöglichungsdidaktik wird vor allem durch folgende Merkmale geprägt (vgl. Siebert 2019, S. 107):
- Situiertheit: Die Herausforderungen sind auf realistische Herausforderungen und Anwendungen bezogen.
- Anschlussfähigkeit: Neues Wissen und neue Kompetenzen knüpfen an den Vorkenntnissen sowie den bisherigen Kompetenzen bzw. Erfahrungen an.
- Selbstorganisation: Personalisiertes Lernen wird ermöglicht.
- Biografieorientierung: Die bisherigen Arbeits- und Lernendefahrungen werden berücksichtigt.
- Kontextabhängigkeit: Lernen ist in das Arbeitsumfeld mit seinen individuellen, sozialen und kulturellen Aspekten eingebettet.
- Emotionalität: Motive und Gefühle der Lernende fliesen in die Lernprozesse ein
- Prozessorientierung: Lernen findet kontinuierlich statt (Lebenslanges Lernen).
- Lernbegleitung: Die Lernprozesse werden professionell begleitet und unterstützt.
Vordergründig steht der Ansatz der Ermöglichungsdidaktik in Widerspruch zu betrieblichen Lernsystemen, weil sich diese an den strategischen Zielen der Unternehmung orientieren, während sich der Aspekt der Ermöglichung primär auf den Mitarbeitenden selbst bezieht. Ein ermöglichungsdidaktisches Vorgehen orientiert sich an den Lernenden und traut diesen grundsätzlich mehr zu, als wir gewohnt sind. Insbesondere können Lernende ihre Lernprozesse, genauso wie sie ihre Arbeitsprozesse zunehmend eigenverantwortlich gestalten, ihre Lernprozesse selbstorganisiert gestalten.
Untersucht man den Begriff der Selbstorganisation, der zwangsläufig mit der Ermöglichungsdidaktik verbunden ist, dann wird deutlich, dass sie ein methodisch initiiertes Anstoßen selbstorganisierter Lern- und Handlungsprozesse ist. Dabei kommt den Emotionen und Motivationen für den Lernprozess eine zentrale Bedeutung zu. Hier gilt in besonderem Maße das Wort des Hirnforschers Gerald Hüther (2009): „Ohne Gefühl geht gar nichts“. Wenn sich also der Mitarbeitende in diesem Ermöglichungsraum selbstorganisiert entwickelt, dann wird er nicht nur im Sinne der Unternehmung „reifen“. Er wird sich dabei immer auch persönlich weiter entwickeln können, wenn auch sicherlich in einem begrenzten Umfang.
Deshalb bietet sich der Ansatz des Co-Working an, weil sich in diesen realen oder virtuellen Räumen Menschen auf flexibler und freiwilliger Basis treffen, die sich sonst unter Umständen nicht nähergekommen wären. Dabei profitieren alle voneinander. Wichtig ist, dass es zielgruppenspezifische, aber auch offene Arbeits- und Entwicklungsbereiche gibt, die die Kommunikation und Kollaboration untereinander ermöglichen. Begleitet werden können diese Prozesse von Coaches, d. h. Prozessbegleitende.
Die Ermöglichungsdidaktik hat zum Ziel, Möglichkeiten der selbstorganisierten Entwicklung mit den institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen der Organisation zu verknüpfen. Dadurch entsteht ein entwicklungsförderndes Umfeld mit einer Vielzahl von Ansätzen, personalisierte Lernprozesse selbstorganisiert zu gestalten. Die Lernbegleitende schaffen ein emotional positives Umfeld für personalisierte, selbstorganisierte Lernprozesse auf allen Ebenen, regen die Mitarbeitenden, die Teams und die gesamte Organisation zur Reflexion über die jeweiligen Entwicklungsziele an und ermutigen sie, ihre Ziele umzusetzen. Dabei unterstützen sie die Kollegen und die Führungskräfte als Coach.